Die Purple Cow in der Algorithmus-Falle
2003 schrieb der fantastische Seth Godin ein schmales Buch, das eine ganze Generation von Produktentwicklern und Marketern aufweckte. "Purple Cow" ist ein feines Stück, das auch über 20 Jahre später nichts von seiner Schlagkraft verloren hat. Also: LESEN!
Godin rief damals eine Bewegung ins Leben, die sich für die Herstellung wirklich außergewöhnlicher Produkte einsetzt. Produkte, die es überhaupt wert sind, vermarktet zu werden.
Seine Botschaft war radikal einfach: In einer Welt voller brauner Kühe fällt eine lila Kuh auf. Punkt.
»Ihre einzige Chance besteht darin, an Leute zu verkaufen, die Veränderungen mögen, die neue Sachen mögen, die aktiv nach dem suchen, was Sie verkaufen«, schrieb er damals.
Das war 2003. Google war noch ein Startup.
Heute, zwei Jahrzehnte später, sind wir ALLE in der Falle des Massengeschmacks gefangen.
Differenzierung wird immer schwieriger, weil wir alle dieselben Daten anstarren, dieselben Trends verfolgen und für dieselben Plattformen optimieren. Das wird mit der KI sicher nicht besser …
Die Purple Cow ist zur Massenware geworden und damit unsichtbar.
Der Geschmack wird gleichgeschaltet
Social Media macht unsere Kultur flacher und uns langweiliger. Instagram zeigt uns, was andere mögen. TikTok pusht, was viral geht. YouTube belohnt, was schon funktioniert hat.
Das Ergebnis? Wir designen alle für denselben Geschmack. Dieselben Farben, dieselben Formate, dieselben Hooks. Wir optimieren uns zu Tode, bis alles gleich aussieht.
Fairerweise: Es gibt einen riesigen Markt für das Gleichgeschaltete. Millionen von Konsumenten suchen das Alltägliche, das Bekannte, das Sichere. Sie wollen nicht auffallen. Sie wollen dazugehören. Und das ist völlig legitim.
Aber hier ist der Haken: Der Wettbewerb in diesem Mainstream-Segment ist brutal höher geworden. Wenn alle dasselbe machen, kämpfen alle um dieselben Kunden mit denselben Mitteln.
Das ist ein Kampf mit wenigen Gewinnern.
Purple Cow vs. Purple Cow
Hier liegt der Haken an Godins ursprünglicher Idee. Er sagte: Sei bemerkenswert. Aber was passiert, wenn bemerkenswert zum Standard wird? Wenn jeder versucht, eine Purple Cow zu sein?
Dann haben wir ein Feld voller Purple Cows. Und plötzlich ist die braune Kuh wieder interessant. Das sehen wir überall: Minimalismus als Reaktion auf Überladung. Überladung als Reaktion auf Minimalismus. Die wahre Purple Cow von heute macht das Gegenteil von dem, was alle anderen machen. Auch das Gegenteil von dem, was alle anderen Purple Cows machen.
Ein paar Anti-Gleichschalterei-Strategien:
Der Anti-Trend: Während alle auf TikTok setzen, baut man Newsletter. Während alle auf Video gehen, macht man Podcasts. Während alle personalisieren, bleibt man bewusst unpersönlich. Statt nervigen Produktreels eine Mini Video-Serie mit einer unterhalsamen Story. Wenn alle unterhalten, setzt man auf Bildung.
Der Mikro-Fokus: Statt für "alle jungen Menschen" designt man für "Architekten unter 30, die in Altbauten wohnen und Skateboard fahren". Die Zielgruppe wird so spezifisch, dass sie übersehen wird, aber sich selbst perfekt erkannt fühlt.
Der Zeitversatz: Man bringt 80er-Jahre-Ästhetik, wenn alle auf Future-Look setzen. Man wird langsam, wenn alle auf Speed fahren. Man geht analog, wenn alle digital werden.
Der Ästhetische Bruch: Form, Farbe und Format einmal radikal anders denken. Und diese Stilbrüche mit einer eigenen Marken-Bedeutung aufladen. Bekanntes mit Unbekanntem kombinieren und mit neuem Überraschen.
B2B wie B2C denken: Die Vermarktung von B2B Unternehmen und Produkten folgt eigenen Kriterien. Aber in transformativen Zeiten ist Langeweile auch kein Treiber für positive Veränderung. Warum darf B2B zB. keinen Spaß machen oder inspirieren?
Das Purple Cow Paradox auflösen
Godin hatte recht: Innovation ist der einzige Weg durch das Chaos aus Produkten und Werbung. Aber "remarkable" hat sich verändert.
Heute ist nicht mehr remarkable, wer nur am lautesten schreit oder am verrücktesten aussieht. Remarkable ist, wer dem Mainstream-Diktat widersteht. Und trotzdem ein Gefühl für die Zielgruppe hat.
Wer eine eigene Ästhetik entwickelt, statt den Feed zu kopieren. Wer Risiken eingeht, statt auf Nummer sicher zu gehen.
Die neue Purple Cow ist nicht lila. Sie ist unsichtbar für den Mainstream, aber unübersehbar für deine Kunden.
Der Ausweg aus der Gleichschaltung
Die Lösung liegt darin bewusst woanders zu stehen. Nicht da, wo alle anderen hinschauen.
Godin schrieb: »The best way to create Purple Cows is to constantly explore the edges or fringes.«
Das war schon damals richtig. Heute sind die Ränder die letzte Fluchtmöglichkeit aus der Gleichschaltung. Wer heute eine Purple Cow designen will, muss sich fragen: Wo schauen alle anderen nicht hin? Wo erwarten Menschen mich nicht? Und vor allem: Was würde ich machen, wenn es Instagram, TikTok und überhaupt das Internet nicht gäbe.
Die Antwort darauf ist deine Purple Cow.